Die so­zia­le Di­men­si­on der Ar­chi­tek­tur

Die Notschlafstelle im Zürcher Quartier Wipkingen hat eine «kleine Gesamtsanierung» erfahren, nachdem letztmals Mitte der 1990er-Jahre Hand angelegt worden war. Aeberli Architekten bewegen sich mit den Massnahmen der Sanierung zwischen Pragmatismus und Ästhetik.

Publikationsdatum
20-12-2023

Unermüdlich schiebt sich der Verkehr durch die Rosengartenstrasse in Zürich, eine vierspurige Altlast der autogerechten Stadtplanung aus den 1960er-Jahren. Sie erzeugt eine Art Peripherie inmitten des Quartiers Wip­kingen. An ihre Ränder schliessen beidseits Siedlungskomplexe und Wohnhäuser verschiedenen Alters an. Einige der älteren Häuser warten im Erdgeschoss mit Ladenlokalen auf – Zeugnisse einer weniger autoverkehrslastigen Vergangenheit, in der noch mit Laufkundschaft zu rechnen war.

Ein solches Lokal besitzt auch das 1927 als Wohn- und Geschäftsgebäude errichtete Haus an der Rosengartenstrasse 30, in dem die von der Stadt Zürich betriebene Notschlafstelle ihr Domizil hat. Sie ist jüngst saniert und umgebaut worden.

Am Rand

Dass die Notschlafstelle an dem durch die Verkehrsschneise markierten Rand beheimatet ist, legt den Schluss nahe, dass es sich bei ihren Klientinnen und Klienten um eine Gruppe handelt, die ebendort, am Rand, zu verorten ist. Die Mehrheitsgesellschaft nimmt sie wohl nur dann wahr, wenn sie Probleme macht. Es sind wohnungslose, oft drogenabhängige und vermehrt psychisch beeinträchtigte Menschen, die hier ein Bett für eine Nacht finden.

Doch erzählen Standort und Nutzung auch etwas über die Drogenpolitik der Stadt Zürich, die in den 1990er-Jahren zu einer liberalen Haltung gefunden hat. Neu wurde die Bekämpfung der offenen Drogenszene, die sich zuletzt unweit der Rosengartenstrasse am Letten eingenistet hatte, von Massnahmen flankiert, die auf soziale Integration der Betroffenen abzielten. Als Teil dieser neuen Politik wurde die sogenannte Überlebenshilfe zur wichtigen Säule, um nicht nur Dro­genkonsum unter kontrollierten Bedingungen zu ermöglichen, sondern ebenso das Folgeproblem Obdachlosigkeit zu bekämpfen. «Überleben» ist dabei wörtlich zu nehmen, ging es doch um grundsätzliche medizinische Versorgung und eben einen sicheren, sauberen Schlafplatz.

Die Nachfrage nach dem Angebot der Notschlafstelle ist seit Jahren konstant. Saisonale Schwankungen – etwa der auf den ersten Blick verwunderliche Rückgang der Belegung im Winter – erklären sich dadurch, dass private Initiativen wie das Sozialwerk Pfarrer Sieber mit dem «Pfuusbus» Unterkünfte anbieten, in denen ein längerfristiger Aufenthalt möglich ist. In der Rosengartenstrasse 30 kommen im Schnitt etwa 25 bis 40 Personen pro Nacht unter, die maximale Kapazität kann notfalls auf beinahe das Doppelte ausgebaut werden.

Grenzen des Konzepts eines offenen Hauses

Dem vor knapp einem Jahr abgeschlossenen Umbau ging 2019 ein selektives Planerwahlverfahren voraus, in dem Aeberli Architekten den Zuschlag erhielten. Die ursprüngliche Idee, das Haus bei laufendem Betrieb zu sanieren, wurde schnell von der Realität eingeholt. Zwar war die erst 2005 sanierte Fassade in gutem Zustand, im Inneren aber war letztmals in der Zeit der Letten-Räumung Mitte der 1990er-Jahre Hand angelegt worden. So entpuppte sich die Altlastensanierung, die mit der Einführung eines neuen Sicherheitskonzepts verbunden war und zu ­einem weitgehenden Ersatz der Sub­stanz bei Einbauten und Haustechnik führte, laut der Architektin ­Daniela Aeberli als «kleine Gesamtsanierung».

Während der Bauarbeiten musste die Notschlafstelle an den Stadtrand ausquartiert werden. Seit Januar 2023 können die Nutzerinnen und Nutzer ihr Bett wieder an der Rosengartenstrasse beziehen.
Im Vergleich zur früheren Situation ist der vormals im zweiten Obergeschoss gelegene Empfang an die Strassenecke gerückt und nimmt einen Bereich des ehemaligen Ladenlokals ein. Der Gussasphaltboden zieht den Strassenraum gewissermassen ins Innere, einen Kontrast dazu bilden die mit dünnen Leisten aus Tannenholz verkleideten Wände des Empfangs, die den Schwung der Fassade aufnehmen.

Aus Sicherheitsgründen ist das Empfangsbüro vom Foyer durch eine Glaswand getrennt, man kommuniziert mithilfe einer Wechselsprechanlage. Dennoch wird schon beim Eintreten klar, dass der Umbau das Ziel verfolgte, das Haus licht und offen zu gestalten, statt die Ankommenden mit pflegeleichter Sterilität zu umhüllen.

Dies ist durchaus bemerkenswert – ist es doch nicht unwesentlich, wie den Betroffenen begegnet wird: Gibt man ihnen das Gefühl, Menschen zweiter Klasse zu sein? Oder erfahren sie Wertschätzung in einer ­ohnehin schwierigen Lebenssituation? Damit sind ethische Fragen berührt, doch spielt auch die Architektur eine Rolle, denn sie gestaltet das Lebensumfeld ganz unmittelbar. Und zwar im Grossen wie im Kleinen, zum Beispiel eben mithilfe der Gestaltung eines Entrées. In ­dieser Perspektive ist die Sanierung der Notschlafstelle zugleich ein sozialer Akt.

Hier und da sind architektonisches Konzept und die Nutzungsanforderungen in Konflikt geraten: Undurchsichtige Folien, mit denen die grossen Fenster im Erdgeschoss nachträglich abgeklebt worden sind, und Vergitterungen der beiden vormals aufgemauerten, im Zuge des Umbaus wieder vollverglasten Öffnungen rechts neben der Eingangstür deuten darauf hin. Hinter den Gittern befinden sich das Empfangsbüro sowie ein Pikettzimmer für den im rückwärtigen Teil untergebrachten Frauentrakt. Laut Leiterin der Stadtzürcher Abteilung Obdach, Sylvie Jossi, sei die Wiederherstellung der Schaufenster in diesen Bereichen «nicht von Vorteil», laufe sie doch dem Bedürfnis nach Privatsphäre und Sicherheit zuwider.

Trotz dieses Einwands verdient das Konzept des offenen Hauses Anerkennung – wäre doch damit die Obdachlosigkeit und ihre Bekämpfung durch die Stadt sichtbar gemacht.

Mit Ästhetik gepaarter Pragmatismus

Die räumliche Organisation des ehemaligen Miethauses als Zweispänner ist noch immer erkennbar. Das in der Gebäudemitte liegende Treppenhaus teilt in jedem Stockwerk zwei Bereiche voneinander ab, die über Flure erschlossen werden. Daran liegen die Schlafräume, die in der Regel zwei oder vier Plätze bieten; die frühere Vorhaltung von 4- und 6-Bett-Zimmern wurde zugunsten einer geringeren Belegungsdichte aufgegeben, was persönliche Rückzugsräume eröffnet. Bei Bedarf kann indes aufgestockt werden.

Mit Küchenzeilen ausgestattete Gemeinschaftsräume, separate Fumoirs sowie Sanitär- und Waschräume komplettieren das Angebot im Frauen- und im davon getrennten Männertrakt in den oberen Geschossen. Auf jeder Etage ist zudem ein Pikettzimmer eingerichtet.

Bei der Orientierung hilft die Farbigkeit: Rotes, dunkel- und hellgraues Linoleum kennzeichnet Schlafzimmer, Flure beziehungsweise Gemeinschaftsräume. Einen weiteren Akzent in Grün setzen die Duschen und WCs mit Wandfliesen und PU-Fliessbelag, was den pflegeleichten (und zerstörungssicheren) Edelstahl-Einbauten einen hochwertigen Rahmen gibt. Die Sicherheit, hier am ehesten als körperliche Unversehrtheit zu verstehen, war bei diesen vielleicht intimsten Räumen ein nicht zu vernachlässigender Faktor: Im Sockelbereich weisen die Türen Sehschlitze auf und öffnen nach aussen, sodass der Zutritt im Notfall stets gewährleistet ist.

An diesem zunächst untergeordnet erscheinenden Beispiel wird das Abwägen zwischen persönlicher Freiheit und allgemeiner Sicherheit, zwischen Zweckmässigkeit und Ästhetik spürbar. Etwas überspitzt formuliert ist es genau ein solcher Aushandlungsprozess, der im Allgemeinen das gesellschaftliche Miteinander prägt. An einem Ort wie der Notschlafstelle tritt er in seiner architektonischen Dimension wie unter einem Brennglas vor Augen.

Der von der städtischen Einrichtung gedeckte Bedarf ist gegeben – der nämlich, eine sichere, saubere Bleibe für die Nacht zu haben und zu merken, damit weder allein noch alleingelassen zu sein. Dass die Unterkunft nicht als Provisorium daherkommt, sondern als Ort mit hohem und zugleich pragmatischem Gestaltungsanspruch, trägt dem gemeinschaftlich zu bewältigenden Phänomen Obdachlosigkeit angemessen Rechnung. So ist das Haus an der Rosengartenstrasse ein Stück soziale Architektur.

Umbau und Instandsetzung Städtische Notschlafstelle Zürich

 

Architektur
Aeberli Architekten, Zürich


Bauleitung
BBB Bauleitung Baumanagement, Küsnacht


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HKP Bauingenieure, Zürich


HLS-Planung
neukom engineering, Zürich


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Mosimann + Partner, Zürich


Bauphysikplanung
Durable Planung/Beratung, Zürich


Brandschutzplanung
Timbatec Holzbauingenieure Schweiz,  Zürich


Schadstoffsanierungsplanung
CSD Ingenieure, Zürich


Grundfläche (SIA 416)
1850 m2


Baukosten (BKP 2)
3.9 Mio. Fr.

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